Innenansichten
Sonntag, 16. Juli 2006
The rhythm of the rails
lilly-charlotte, Sonntag, 16. Juli 2006, 20:20
Wenn man einen Samstag zur freien Verfügung hat und etwas erleben möchte, setze man sich einfach in einen Zug der DB. Oh nein, nicht in so einen netten ICE mit genug Beinfreiheit, bequemer Sitzstellung und der Option, ein "stilles" Abteil zu wählen, um nicht von anderen Mitreisenden über die jeweiligen Befindlichkeiten von Gallensteinen bis nicht gezahltem Kindesunterhalt informiert zu werden.
Nein, man wähle ein bürgerfreundliches Wochenendticket und setze sich in einen Zug des Nahverkehrs. Für die nötige Abwechslung wähle man eine Route, die nicht direkt zum Ziel führt, sondern bis mindestens 2-3maliges Umsteigen erfordert. Für die Steigerung des Nervenskitzels wähle man die Route so, daß am Unsteigebahnhof möglichst wenig Zeit bleibt, um den nachfolgenden Zug zu erwischen.
Der Rahmen von ca. 5-15 Minuten z.B. verheißt eine reele 50:50-Chance, entweder etwas für seine Sprintfähigkeit zu tun und noch den nächsten Zug zu erwischen oder aber sich einen Bahnhof, vorzugsweise eines Ortes mit unter 5000 Einwohnern, einmal in Ruhe anschauen zu können.

Aber - man bekommt auch etwas geboten.
Wenn man sich z.B. überwindet, auf eine Toilette ebendieses Nahverkehrszuges zu gehen, vor der sich bereits eine lange Schlange gebildet hat. Man wartet, und wartet und erfährt von anderen Mitreisenden, daß es sich scheinbar um die einzige funktionable und damit geöffnete Toilette des Zuges handelt. Woraufhin das dringende Bedürfnis schon erheblich nachläßt, aber immer noch deutlich genug vorhanden ist, um einige weitere Minuten auszuharren. Zu diesem Zeitpunkt werden andere Wartende schon deutlich ungeduldig, denn laut Augenzeugenberichten haben sich zwei Mädchen in der Toilette seit einer geschlagenen halben Stunde verbarrikadiert. Selbst die akustische Untermalung der Wartezeit mit den immer wieder ertönenden Akkorden von etwas, was entfernte Ähnlichkeit mit einem von Britney Spears´ Trallalalas aufweist, kann die Wartenden nicht besänftigen.
Auf mehr oder minder höfliches Anklopfen eines besonders echauffierten jungen Mannes öffnet sich schließlich die Toilettentür und eine ca. 16-jährige prostet den Umstehenden mit einem Fläschchen V*ltins zu und erklärt: "Nee, das geht nicht schneller, die wäscht sich noch die Haare, wir müssen zum Casting!" Sprachs, prostete nochmal, verschwand und verriegelte die Tür.
Na ja, denn.

Aber - die rechtschaffende Instanz des Zuges in Gestalt des Schaffners ist in der Zwischenzeit auf den zunehmenden Tumult aufmerksam geworden. Und nähert sich energischen Schrittes. Und da der Schaffner eh schon verstimmt ist, weil er Dienst in einem Wochenendticketzug ableisten muss, hat er plötzlich ein erstklassiges Ventil für alles gefunden, was schon immer in seiner Seele brodelte.
Deshalb donnert er mehrere Minuten und solange an die Tür, untermalt von lautstarkem Gebrüll und unter Anfeuerungsrufen des gesamten Abteils, bis die beiden Übeltäterinnen endlich die Tür öffnen. Davon ein Exemplar mit halbnassen, ziemlich wirren Haaren und völlig zerlaufenem Make-Up sowie das Flaschenmädchen, das die Wartenden und den Herrn Schaffner mit den Worten "Ey, jetzt bleibt doch mal alle locker, was guckt ihr denn alle so verbiestert?" einen leider vergeblichen Besänftigungsversuch startet. Die Idee, dem Herrn Schaffner erst einmal ein Schlückchen aus der V*ltins-Flasche anzubieten, stellt sich ebenfalls als nicht besonders glücklich heraus. Allerdings scheint es ihm die Sprache verschlagen zu haben und sein Abgang daher rotköpfig, aber wortlos.

Das Flaschenmädchen interessiert das jedoch alles wenig, sie sucht vielmehr jemanden, der ihr den Aufnahme-Bogen für das Popstars-Castings ausfüllt. Ihre Schrift sei so unleserlich. Und wendet sich damit an den besonders echauffierten jungen Mann, dessen Blase anscheinend besonders gedrückt hatte. Was bei diesem leider einen Wutanfall provoziert und ihn dazu bewegt, den Fragebogen höchst theatralisch zu zerknüllen und unter Schimpftiraden durch das Abteil zu werfen.
An dieser Stelle hielt der Zug leider und ich musste umsteigen. Deswegen werde ich wohl nie erfahren, ob die Haare noch erfolgreich zu Ende gewaschen werden konnten, der junge Mann und das Flaschenmädchen vielleicht doch noch Freunde geworden sind und/oder das Casting von Erfolg gekrönt war.

Aber: Geballte Emotionen, zwischenmenschliche Abgründe und nachhaltige Action - das ist Entertainment vom Feinsten. Jetzt verstehe ich endlich auch die ständig steigenden Beförderungspreise. Gute Unterhaltung hat nun einmal ihren Preis.

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