Innenansichten
Samstag, 22. September 2007
Bündnisse
lilly-charlotte, Samstag, 22. September 2007, 11:52
Das erste Gefühl war tiefe, mich vollkommen durchflutende Ablehnung.
Wie sie beim Einschulungsgottesdienst des Gymnasiums selbstverständlich in der ersten Reihe Platz nahm, laut und fröhlich lachend. Und ihr über die Schulter geworfener Blick beim Setzen meinen streifte. Sie gehörte zu den Personen, bei denen ich spontan hoffte, sie komme nicht in meine Klasse. Während des gesamten Gottesdienstes, der Musterung der überwiegend fremden Gesichter, meines wachsenden Unbehagens, während des Auf und Ab der ruhigen Stimme des Pfarrers und seiner frommen Wünsche an uns für diesen grossartigen neuen Lebensabschnitt, hoffte ich.
Natürlich kamen wir in eine Klasse.

Und natürlich sass sie nur einen Tisch weiter. Immer fröhlich, immer etwas lauter als angemessen, immer die Aufmerksamkeit auf sich ziehend, immer alle Menschen um sich herum einbindend, ob sie wollten oder nicht - das komplette Gegenteil von mir. Ich hasste es, weil ich mich für sie schämte. Sie war nicht beliebt, sie fiel auf, was in meinen Augen alles noch schlimmer machte. Ich, die damals introvertiert und schüchtern war, hatte diesem überschäumenden Charakter nicht viel entgegen zu setzen.
Zwei Jahre hatten wir wenig Kontakt. Wir richteten uns im Schultrott ein, suchten uns Freunde und eine obligatorische "beste Freundin" und trafen höchstens auf den Geburtstagsfeiern anderer kleiner Mädchen zusammen.
Bis zu dem Tag, an dem wir eine Ahnung davon bekamen, dass zum soliden weiblichen Dasein auch ein gewisses Mass an Zickigkeit gehört.
Und unsere jeweils besten Freundinnen uns mitteilten, dass wir fortan aus dem Rennen waren und die beiden nun "beste Freundinnen" ohne uns waren waren. Partnertausch auf Kleinmädchen-Art.
Ich war am Boden zerstört, sie sah mich mit dem ihr eigenen Kampfgeist an und sagte: "Das können wir auch." Und das setzte sie auf ihre typisch beharrliche, unnachgiebige Art und Weise in die Tat um.

So grundverschieden wir waren, es wurde Freundschaft. Wir standen die erste große Liebe zusammen durch, den nachfolgenden Liebeskummer. Feierten den ersten hart erkämpften Konzertbesuch. Jobbten nebenbei in derselben Firma, um Sardinien zu sehen, Paris, England. Verliebten uns zweimal in denselben Mann, in einen gleichzeitig. Betranken uns mit Amaretto-Apfelsaft im Garten ihrer Eltern. Wir stritten öfter, heftig und immer in aller Konsequenz, aber nie boshaft.
Am Ende der Schulzeit trennten sich dann unsere Wege. Ich ging, sie blieb. Wir fanden neue Freunde. Wir lebten uns auseinander, begünstigt von der Entfernung und den unterschiedlichen Erfahrungen.
Sie muss in dieser Zeit todunglücklich gewesen sein, aber sie deutete höchstens an. Aber ich war so glücklich und abgelenkt, dass ich nichts sah. Lange hat sie versucht, mich zu halten, die Freundschaft immer wieder zu reanimieren. Ich fühlte mich eingeengt, empfand sie als Last. Wir stritten nicht mehr, wir ahnten beide die Gefahr, dass es am Ende keine Versöhnung gegeben hätte.
So kamen erst die Ausreden, dann die Tränen und dann die Stille. Wenn sie doch einmal anrief, ließ ich den AB antworten. Mir ging es wieder wie in der 5.Klasse, sie war mir zu viel, zu fordernd. Zu Ihrer Hochzeit versuchte sie mich wochenlang zu erreichen, bis sie mir die Einladung per Post schickte. Ich war solange dort, wie es die Höflichkeit gebot und froh, wieder fahren zu können, gleichzeitig war mein Schuldbewusstsein mörderisch. Danach verebbte der Kontakt wieder.
Irgendwann kamen Ereignisse, die uns nochmals näher brachten, nur um dann festzustellen, dass es nicht mehr so war wie früher zwischen uns. Wir hatten uns charakterlich angeglichen, fast die Rollen getauscht und waren wieder grundverschieden.

Wir beließen es dabei. Vorsichtiger Kontakt, geprägt von dem Vergangenen.
Aber wenn ich so wie gestern Morgen eine der seltenen E-Mails in meinem Postfach finde, dann vermisse ich sie so heftig, dass der Schmerz im Brustkorb den ganzen Tag über anhält. Vielleicht auch nur diese besondere Art der Freundschaft. Die Fragen nach dem "Warum" und was man hätte anders machen können, sind schon lange nicht mehr da, nur das Bedauern. Vielleicht aber ist doch nur das verloren, was man aufgibt.

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